Bericht über die Heiner-Müller-Gastprofessur mit Rainald Goetz am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin (Sommersemester 2012)
Es beginnt mit einer Hassempfindung. (Rainald Goetz)
Seit der Antrittsvorlesung im Mai 2012 und den folgenden Seminarterminen ist viel veröffentlicht und im Privaten vermutlich noch weitaus mehr geschrieben worden über die Heiner-Müller-Gastprofessur von Rainald Goetz am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin: Presseartikel, Blogs aus dem Seminarraum, nicht zuletzt ein Artikel in der Augustausgabe des Merkur. Nachdem Goetz sich über längere Zeit öffentlichen Auftritten entzogen hatte, schwingt sich im Jahr der Veröffentlichung seines neuen Romans Johan Holtrop eine gesteigerte Begierde nach dem Autor auf, die von diesem durch eine gemeinsam mit Diedrich Diederichsen an der Humboldt Universität Berlin gehaltene Veranstaltung unter dem Titel mehr, später mit der medienwirksamen Inszenierung seiner Buchübergabe an die in den Suhrkamp-Verlag eingeladenen Kritiker nicht nur bedient, sondern direkt angefacht wurde.
Eine gedrungene Energie geht von diesem kleinen, drahtigen Mann aus, eine Energie, die selbst in den freudestrahlenden Momenten, in denen er mit funkelnden Augen und heiterem Grinsen die Arme ausbreitet, noch immer von einer unbedingten, weil von ihm selbst immer wieder zelebrierten und sich längst in das Gehirn seiner Rezipienten eingebrannten Negativität durchströmt ist. So beschreibt etwa Julia Encke auf FAZ.net die Stimmung auf Goetz’ Bücherübergabe an die Journalisten:
Dass viele von denen, die Goetz im Laufe der vergangenen Jahre in seinen Texten oder im wirklichen Leben schwer beleidigt oder beschimpft hat, schwitzend […] auch hier in der Hitze standen und Gefahr liefen, sich gleich wieder beschimpfen zu lassen, war natürlich deren Sache, scheint aber eine besondere Ausprägung des Kritikermasochismus gegenüber dem bis zur Selbstaufgabe verehrten Autor zu sein. Man denkt ja immer, Schriftsteller wollten von Kritikern geliebt werden. Im Fall Rainald Goetz ist das umgekehrt. Da wollen die Kritiker von Rainald Goetz geliebt werden, ganz so, als wäre dessen Wertschätzung der Ritterschlag, jede Geste der Zuwendung eine Art Rainald-Goetz-Superkritikerpreis.[1]
Die von Encke gezogene Unterscheidung zwischen Goetz’ Texten und dem „wirklichen Leben“ mutet unter der Unterschrift der Antrittsvorlesung, Der Existenzauftrag der Schrift – Leben und Schreiben, seltsam an. Doch zieht auch Goetz gleich in der ersten Seminarsitzung eine Trennlinie zwischen der direkten sozialen Interaktion und dem Aufeinandertreffen in Texten: erfordere erster Fall ein hohes Maß an Höflichkeit, sei in letzterem absolute und höchstpräzise Härte gefragt. Anders gewendet: obgleich Goetz in seinen Texten maximal austeilt, kann er mit direkten Konfliktsituationen nicht umgehen. Damit setzt er den gewünschten Grundtenor dieses personalreichen Seminars – circa fünfundvierzig Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben sich beworben und alle hat Goetz mit einem Joseph-Beuys-Gedenkmove zugelassen –: einen oberflächlich höflichen. Dass die Teilnehmenden sich distanzierend beäugen und nur darauf warten, dass der oder die erste sich peinlich entblößen und zur stillen Häme freigeben möge, vermag diese Deklaration nicht zu kaschieren.
Welt, Ich, Schrift, Kritik: diese vier Schlagworte setzen die Perspektivkoordinaten des Seminars, die Fluchtlinien der im Titel der Antrittsvorlesung adressierten Problematik: Die Welt ist interessanter als die Literatur, das Ich ist der Glutkern der Sache, Schrift ist Körper der Idee, jeder radikale Gedanke ist mit seinem Ausgesprochensein zerstört. So könnte eine erste, in ihrer radikalen Verkürzung unzulässige Annäherung an das von Goetz vorgestellte Programm aussehen. Den Gedanken, dass sich das Schreiben guter Texte in einem Seminar lehren lasse, lehnt Goetz ab: Literatur ist kein Handwerk, das Gehirn ist keine Werkstatt. Denn die Qualität eines Textes entscheidet sich primär im Verhältnis des Schreibenden den Dingen und der Welt gegenüber: Rezeptivität ist die Essenz von Stil. Schreiben ist in diesem Sinne nicht Arbeit am Text, sondern in erster Linie Arbeit an einer Haltung. Aufgabe seiner „Schreibwerkstatt“ könne vor diesem Hintergrund nicht das Entstehenlassen von Texten sein, die Hilfe an der Verfeinerung, sondern die Verhinderung von Texten: das wäre ein Gewinn.
Zu jeder Woche gibt Goetz Hausaufgaben auf: kleine Lektüren und eigene Textproduktionen. Etwa die Beschreibung des Besuchs der Ausstellung Am Rande der Vernunft. Bilderzyklen der Aufklärungszeit im Kupferstichkabinett oder einen kurzen Text unter dem Titel Todesanzeige. Die in der Antrittsvorlesung zur ersten Seminarsitzung gestellte Aufgabe lautet: zwei Schriftsteller treffen sich in einem Klamottengeschäft in Berlin-Mitte, der eine portraitiert den anderen in drei bis vier Sätzen, möglichst „implikationsfrei“. In der folgenden Seminarsitzung offenbart sich eine allgemeine Verwirrung unter den Teilnehmenden, was mit „implikationsfrei“ gemeint sein könnte. Schriftsteller, Klamottengeschäft, Berlin-Mitte, implikationsfrei: diese Begriffskette ist doch ein Widerspruch in sich! „Ein Text ohne Unter- und Obertöne,“ erklärt Goetz, „subtextfrei, ohne eine vorgefertigte Meinung, die im Text nicht explizit ausgeführt wird, aber zwischen den Zeilen mitschwingt.“ Als positives Beispiel eines Romananfangs nennt er Schimmernder Dunst über Coby County von Leif Randt.[2]
Unbefriedigung steht in die Gesichter geschrieben: mit der Aufgabenstellung, in Konsequenz mit dem eigenen Text. Angesichts der großen Teilnehmerzahl teilt Goetz das Seminar in Kleingruppen auf, in denen jede® seinen oder ihren Text vorstellt. Anschließend wählt jede Gruppe einen Text aus, der im Plenum vorgelesen wird. In meiner Gruppe hat niemand großes Verlangen, den eigenen Text vor der Gesamtgruppe vorzulesen, abgesehen von einer Kommilitonin, die den mit Abstand schlechtesten, einer Vorstellung im Plenum absolut unwürdigen Text geschrieben hat. Sogar: so ziemlich den schlechtesten Text, den ich je in meinem Leben gelesen habe. Dafür möchte sie es umso mehr. Diese Situation ist unangenehm. Dank unserer oberflächlichen Höflichkeit mag niemand ihr das Urteil ins Gesicht sagen. Letztendlich erbarmt sich ein anderes Kleingruppenmitglied der Vertreterschaft und die renitente Kommilitonin wird überstimmt. Goetz freut sich über alle vorgelesenen Texte: „Danke! Toll!“ Grinsen, lächeln, auch wenn er mit Sicherheit nur weniges gut findet. So schippert das Seminar soft wie eine Butterfahrt vor sich hin. Alles ist nett, harmlos, oberflächlich. Gewinnbringende Diskussionen kommen nicht auf. Stattdessen kann man Rainald Goetz entspannt dabei zugucken, wie er Rainald Goetz ist und spielt.
Die letzte Seminarsitzung endet allerdings mit einem Konflikt. Sowohl der die Gastprofessur betreuende Dozent, als auch die betreuende studentische Hilfskraft, hatten es im Vorfeld offenbar versäumt, Goetz darüber zu informieren, dass er am Ende des Seminars Noten vergeben muss. Erst an diesem Morgen war er in Kenntnis gesetzt worden und hatte sich entschieden, allen Teilnehmenden eine 2,0 zu geben. Denn eigentlich empfinde er die Aufgabe der Notenvergabe als unsinnig.
In der letzten Pause spricht ein Student Goetz auf die Frage der Notengebung an. Über die getroffene Entscheidung der Pauschalbewertung informiert, bemerkt er in arrogantem Tonfall, über die 2,0 “müsse man noch einmal reden”, woraufhin Goetz, anstatt den Studenten etwa mit einem Aufschub des Problems auf eine Diskussion im Plenum zu beschwichtigen, in aggressive Aufregung gerät. In Anschluss an die Pause ruft Goetz besagten Studenten nach vorne: er solle seinen eigenen, zur Bewerbung auf das Seminar eingereichten Text vorstellen und kritisieren. Auch wenn dies die vorzubereitende Hausaufgabe war, vollführt er hier nichts anderes als ein Rachetribunal für die in der Pause erlittene Unhöflichkeit.
Sich räuspernd kommt der Student vom hinteren Ende des Raumes nach vorne gestolpert, Schweißperlen laufen ihm die Schläfen hinab, sodass er, am Pult angekommen, noch einmal zu seinem Platz zurückläuft, um sich ein Taschentuch zu holen und das Gesicht zu trocken. Mit seinem Kindle-Reader in der sichtbar zitternden Hand setzt er sich endlich und erklärt, er habe sich auf die Alternativhausaufgabe vorbereitet, könne nun aber spontan auch seinen eigenen Text kritisieren, bricht dann wieder ab oder wird von Goetz unterbrochen und redet plötzlich doch über die Alternativhausaufgabe, kommt dabei zu keinem Punkt, so dass Goetz ihn wiederum scharf von der Seite unterbricht, ihn fragt, ob er denn auch konkrete Textstellen nennen könne, woraufhin der Student noch einmal aufsteht und zum anderen Ende des Raumes hetzt, um seine Textkopie heranzuschaffen. Daraufhin kann er jedoch noch immer nichts produktives hervorbringen, also bricht Goetz die Aufgabe ab und schickt den Studenten zurück auf dessen Platz. Peinlich.
Die Stimmung ist angespannt. Eine junge Frau meldet sich freiwillig, ihren eigenen Text zu kritisieren. Daran anschließend kommt Goetz auf den Notenkonflikt zu sprechen, den der Student nicht als “Konflikt” verstanden wissen möchte. Diese Bemerkung übergeht Goetz, hat schon zu viel Fahrt aufgenommen: seinem persönlichen Maßstab könnten die eingereichten Texte ohnehin nicht standhalten. Läge er diesen an, müsste er den meisten Teilnehmenden eine Note zwischen 4 und 6 geben, zum Beispiel von betroffenem Studenten falle ihm ein Text ein, der nicht mehr als eine 6 verdient habe. Der Student und die junge Frau, die gerade vorgelesen hat, erklären, dass sie sich das Seminar mit einer 2,0 nicht werden anrechnen lassen, da sie um eine Beeinträchtigung ihrer Abschlussnote fürchten. Goetz ist verwirrt, aufgebracht, findet das alles komplett idiotisch. Leider melde ich mich und versuche ihm zu erklären, dass für eine Master-Bewerbung in unserem Fach ein sehr guter Notendurchschnitt notwendig ist, dass viele Studierenden sehr gute Noten gewohnt sind und eine 2,0 daher negative Relevanz haben kann. Goetz geht nun komplett an die Decke, findet das ganze universitäre System schwachsinnig, von Idioten besetzt: die Dozenten hätten „keine Eier“, Angst vor den Studenten usw. Goetz regt sich bis zur Erschöpfung auf, am liebsten würde er das Seminar beenden.
Als das Seminar tatsächlich zu Ende ist, will der betroffene Student Goetz zur Versöhnung die Hand geben, der weicht ihm erst aus, läuft mit eingeigeltem Nacken zwei Schritte in Richtung Wand, will davon nichts hören, will nicht angefasst werden, gibt ihm dann aber doch die Hand, unter der Prämisse, dass er nun endlich in Ruhe gelassen wird. Ich spreche mit der studentischen Hilfskraft, da steht Goetz plötzlich neben mir und erzählt noch einmal von vorne minutenlang, wie bescheuert und idiotisch das alles ist. Dabei hat doch auch er selbst sich vollkommen bescheuert gegenüber einem dreißig Jahre jüngeren Trottel verhalten, dessen steife Arroganz ohne Probleme hätte gezähmt werden können. Mit der immer wieder betonten Deklaration, er könne mit Konfliktsituationen in direkter Interaktion nicht umgehen, kann Goetz sich hier nicht immunisieren. Einen Studierenden, wenn auch aus einer Verwirrung heraus, dermaßen vorzuführen und die Macht der Professorenposition in dieser Härte auszunutzen, ist schlichtweg falsch.
Denn so endet das Seminar mit dem Eklat, auf den viele vielleicht gewartet haben. Das ist sehr schade, das ist unnötig, das spiegelt den nicht sehr aufregenden Charakter der Veranstaltung nämlich absolut nicht wider.
Nachtrag: Als ich anschließend an die Lesung von Johann Holtrop im Deutschen Theater Berlin am Signiertisch stehe, um mir von Goetz einen Gruß in mein Exemplar schreiben zu lassen, hält dieser einige Sekunden inne und sagt dann: „Ich habe nach einem Wort gesucht, das unser Seminar beschreiben würde, aber mir fällt nichts ein…“ Also schreibt er „für Jan * Rainald Goetz“. Am nächsten Tag kommt mir eine Frage in den Sinn, die ich ihm gerne gestellt hätte. Über Pia, die Frau Johann Holtrops, ehemalige Studentin am Peter-Szondi-Institut und nun Volkshochschullehrerin, heißt es an einer Stelle: „Das Lehren veränderte sie mehr als der Abschluss des Studiums. Man wird einfach ein sich weltwärts objektivierender Mensch dadurch, das stabilisiert auf richtige Art das Subjekt.“ Wie auch immer dieser Satz gemeint sein mag, frage ich mich, wie Goetz ihn nach seiner eigenen Lehrerfahrung bewerten würde.
[1] Julia Encke: Die Einladung. FAZ.net, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rainald-goetz-neuer-roman-die-einladung-11843926.html (zuletzt abgerufen am 07.09.2012). [2] Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County, Berlin 2011, S. 9: "Weil es der fünfundsechzigste Geburtstag meiner Mutter ist, stehen Senioren in beige-farbenen Regenmänteln auf der Dachterrasse. Am Himmel haben sich Wolken aufgetürmt, es nieselt ganz leicht. Meine Mutter spricht zur Begrüßung ein paar Worte und verweist auf die Bar. Dort stehe ich und winke."