Im Hafen von Piräus läuft nicht nur humanitär, sondern auch semantisch vieles durcheinander. Bericht eines Besuchs vom 16. März 2016.
Als ich letzte Woche Mittwoch vor einem Camp im Hafen von Piräus saß und eine Frau aus Syrien neben mir Platz nahm, dauerte es einen Moment, bis ich ihre Begrüßung ‚καλημέρα‘ als das griechische Wort für ‚guten Tag‘ eingeordnet hatte. Da die Frau kein Englisch sprach und ich kein Arabisch, verblieb unsere Unterhaltung im Stocken. Mit Handzeichen fragte sie mich, warum ich einen so dicken Schal trage, mimte ein Husten und zeigte auf einen Container des Roten Kreuzes, der vor der zwischen drei Lagerhallen situierten Unterkunft aufgebaut war und vor dem Männer und Frauen Schlange standen.
Auf der gesamten Längsseite einer der Hallen kündigte ein von der Witterung leicht ausgeblichenes Plakat das 2500-jährige Jubiläum der Schlacht von Salamis an, in der die alten Griechen die persische Flotte besiegt, der alte Westen sich gegen die Angreifer aus dem Osten behauptet hatte. Eine Halle weiter warb ein fast genau so großes Billboard für die baldige Umgestaltung des Areals. Abgebildet war ein Rendering des Kais, darauf die bräunlichen Backsteingebäude in ein aufgeräumtes grau stilisiert, zum Teil um bunte Designelemente erweitert. Hölzerne Sitzgelegenheiten, Bäume und künstlerische Installationen waren über die menschenleere Freifläche verteilt. Daneben stand auf Griechisch: „Πολιτιστική Ακτή Πειραιά. Το λιμάνι ανοικτό στους πολίτες“ und auf Englisch: „Piraeus Cultural Coast. The port welcomes the citizens“.
Als Kern des umfassenden Planes zur Neugestaltung dieses Bereichs im westlichen Teil des Hafens, hatte die Port Authority Mitte 2014 einen architektonischen Wettbewerb ausgeschrieben. Dessen Zielsetzung umfasste neben dem Bau eines archäologischen Museums auch die Schaffung eines öffentlichen Parks als „Gate for Culture and Tourism“ zwischen Piräus und der angrenzenden Gemeinde. Im Januar 2015 wurde der Gewinner des Preises bekannt gegeben, die für den Mai desselben Jahres geplante Zeremonie zum Wettbewerb jedoch aufgrund gerichtlicher Revisionen auf unbekannte Zeit verschoben.
Ein im ‚Masterplan‘ der ‚Cultural Coast‘ schon gar nicht mehr existierendes Gebäude wird mittlerweile als Unterkunft für die von den griechischen Inseln ankommenden Geflüchteten verwendet. Statt der von den Planern erhofften ‚πολίτες‘ oder ‚citizens‘ – gerade in Konstellation mit dem als ‚cultural‘ übersetzten ‚πολιτιστική‘ betont das griechische Wort stärker als das englische den Status des ‚Staatsbürgers‘ in Unterschied zu all denjenigen, die nicht der ‚Polis‘ zugehören – kommen Menschen, die auf absehbare Zeit jeglicher Bürgerrechte entledigt sind.
Für die Geflüchteten war der Hafen von Piräus lange Zeit primär eine Transitstation in Richtung Zentraleuropa, seit Schließung der Balkanroute füllt er sich täglich. Derzeit befinden sich dort circa 4000 Menschen, größtenteils aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, nach Staatszugehörigkeit auf getrennte Unterbringungen verteilt. In der alten Wartehalle und auf deren Vorplatz halten sich vor allem syrische Familien auf. Über das weitläufige Gelände verstreut stehen zusätzlich unzählige Iglu-Zelte, in denen sie schlafen, sitzen und warten. Hoch ist der Anteil an Kindern, die auf den LKW-Parkplätzen mit Bällen spielen, Hula-Hoop-Reifen kreisen lassen oder gelangweilt auf dem Boden sitzen, während um sie herum der alltägliche Hafenbetrieb weiterläuft, Autos vorbeifahren, Touristen ihre Rollkoffer in Richtung der Gates ziehen und Arbeiter Waren einlagern. Jugendliche streifen zu zweit oder in Kleingruppen über das Gelände, sitzen auf Betonblöcken oder an der Hafenkante und führen Gespräche, während die Erwachsenen auf den eisernen Absperrbändern der Gates ihre Wäsche aufhängen oder in einer der vielen Schlangen für Verpflegung, Toiletten, Agenturen wie das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen oder das Rote Kreuz anstehen.
Über ihren Scherz, dass auch ich mich für den Arzt anstellen sollte, amüsierte sich die neben mir sitzende Frau prächtig. Während wir uns einander vorstellten, hatte eine auf der leicht versetzt stehenden, dritten Halle installierte Uhr als Glockenspiel einige Takte aus Ta Pediá tou Pireá angespielt. Auf mein verwundertes Nachsummen der Melodie und Gesten in Richtung der Uhr, zeigte meine Gesprächspartnerin mir ihre Armbanduhr, damit ich die Zeit ablesen könne, das Lied schien ihr nicht bekannt.
Erst am Vorabend hatte ich unter Freunden in Ausblick auf den Besuch des Hafens die in Deutschland unter dem Titel Ein Schiff wird kommen bekannte Version des Liedes von Lale Andersen erwähnt: „Ich bin ein Mädchen aus Piräus / Ich liebe den Hafen, die Schiffe und das Meer“. Dass es hier nun tatsächlich lief, war geradezu absurd. 1960 gewann Ta Pediá tou Pireá einen Oscar als ‚Best Original Song‘ aus dem Film Ποτέ Την Κυριακή / Never on Sunday (1960) von Jules Dassin und wurde schnell in vielen Sprachen gecovert. Die Komödie erzählt von der im Hafen von Piräus arbeitenden Prostituierten Ilya und dem amerikanischen Touristen Homer Thrace, der nach Griechenland gekommen ist, „um die Wahrheit zu suchen“ über die psychologischen Gründe des Untergangs der griechischen Antike und damit der Probleme der westlichen Welt im Allgemeinen. In der schönen, selbstbewussten und von allen Hafenarbeitern umkreisten Ilya glaubt Homer das „Symbol“ seiner Suche zu sehen, sie ist ihm „Sinnbild und Gleichnis für den Untergang der alten griechischen Kultur“. Der Hobbyphilosoph macht es sich zur Aufgabe, Ilya in ihrer neu eingerichteten Wohnung voller Bücher, Klavier und Schachbrett zu einem moralischen Wesen zu erziehen, indem er ihr die ‚Vernunft‘ der Bildung statt freudig-sinnlicher ‚Phantasie‘ beibringt. Als die gelangweilte Ilya aber allein ist, zieht sie hinter der Bücherwand eine alte Schallplatte hervor und singt dazu ihr Lied.
Anders als in der deutschen Version des Textes, in dem der romantisch verklärten Sehnsucht nach dem ‚Einen‘ Ausdruck gegeben wird – „Ein Schiff wird kommen / Und das bringt mir den Einen / Den ich so lieb wie keinen“ usw. –, besingt der Refrain des griechischen Originals – hier anhand der deutschen Untertitel des Films wiedergegeben – die Magie des Hafens von Piräus selbst: „Wenn das Zwielicht anbricht / Singt mir der Hafen ein Lied / Und es kommen lauter junge Männer / Und es erklingen Echos von Musik“. Entsprechend handelt der auf die Wiederholung des Refrains zuführende Zwischenteil in der deutschen Version von der biederen Erlösung aus der Zeit mit „fremden Matrosen“, während die Sängerin im Griechischen den Hafen zwar mit ihren eigenen Kindern füllen will, ihre Liebe aber offen hält: „An meiner Tür geht niemand vorbei / Für den ich keine Liebe empfinde / Und von denen die morgen kommen / Träume ich nachts / […] Jetzt bin ich bereit, den Fremden [άγνωστο] zu empfangen“. Am Ende des Films bleibt Ilya, die sich bildet, aber nicht demütigen lässt, die Alte und Homer entdeckt den Spaß am sinnlichen Leben, bevor er seine neuen Freunde verlässt und wieder in die USA abreist.
Irgendwann fiel mir auf, dass sich die Zeiger der Hafenuhr seit meiner Ankunft nicht bewegt hatten. Ebenso hatte die syrische Frau keine Hast, saß einfach nur da, mit Blick auf das Lager, als würde sie auf gar nichts warten und auch ich saß noch eine Weile neben ihr, bevor ich mich verabschiedete. Auf dem Weg zur Bahn erfuhr ich von einem Polizisten, dass die Melodie der Uhr trotz Defekts des Ziffernblattes zu jeder vollen Stunde gespielt werde – und zu jeder halben. „The Children of Piraeus“, sagte er und dann mit einem für Folklore reservierten, liebevoll ironischen Lachen: „by Manos Hadjidakis“. Am Abend las ich im Internet, dass auch Angelina Jolie das Flüchtlingscamp im Hafen von Piräus besucht hatte. Wir mussten uns knapp verpasst haben.